Sicht des Alpinhistorikers Amstädter

Am Allerheiligentag 2014 setzte sich der international bekannte Wiener Zeitgeschichtler, Alpin- und Sporthistoriker, Extrembergsteiger und staatlich geprüfte Berg- und Skiführer Dr. Rainer Amstädter an die Tastatur seines PC.  Kurz zuvor hatte in der Tageszeitung „Der Standard“ die Vorwürfe von Dr. Herwig Frisch, Dr. Hannes Pflaum und Dr. Verena Kienast gegen den Journalisten und Autor Gerald Lehner gelesen, der im „Standard“ über Tichys NSDAP-Vergangenheit geschrieben hatte. Hier lesen Sie Amstädters Replik zu dieser Debatte:
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Der lange Weg zur Erinnerung

Die Entzauberung der Österreich-Ikone Herbert Tichy als Nazi-Wegbereiter und Propagandist des japanischen Eroberungskrieges war seit langem fällig. Viele Fans des Bergsteigers sind über die von ihm nach 1945 verschwiegenen Details seiner politischen Rolle für die Nationalsozialisten schockiert.

Von Dr. Rainer Amstädter

Selbst als gelernter Österreicher kann einen große Beklemmung erfassen, wenn wieder einmal Alpin-Ikonen der österreichischen Nachkriegsidentität posthum noch über ihre NS-Vergangenheit stolpern. Nach den beiden österreichischen Erstbesteigern der Eigernordwand 1938, den SA- und SS-Männern Heinrich Harrer und Fritz Kasparek, wurde nun auch noch der „humanistisch gebildete, feinsinnige und humorvolle Herbert Tichy“ – wie das die publizistische Speerspitze des „Vereins zur Förderung des Andenkens an Herbert Tichy“ in ihrem untergriffigen „Standard“-„Kommentar der Anderen“ vom 31. Oktober 2014 zum „Standard“-Artikel des ORF-Journalisten Gerald Lehner vom 28. Oktober dieses Jahres zu suggerieren suchen – als NS-Wegbereiter enttarnt.

Nach NS-Protagonisten benannte Straßen

Ich habe selbst zu meiner völligen Verblüffung in einer der „Wiener Vorlesungen“, die sich im Oktober 2013 in einer öffentlichen Diskussion mit Straßennamen von österreichischen Personen befasste, im Verlauf des Referats des Institutsvorstandes für Zeitgeschichte der Universität Wien Univ. Prof. Oliver Rathkolb von den bis vor Kurzem unbekannten NS-Aktivitäten Tichys. Nach dem Bergsteiger, Autor, Journalisten und Geologen war 1993 der Tichyweg in Wien Währing benannt worden.

Tichys NS-Vorreiterrolle

Auch ich war in meiner, bereits vom Bergsteigen geprägten Jugend, begeisterter Leser von Tichys Jugendbüchern wie der „Flucht durch Hindustan“ – eine Erzählung für die Jugend (1953); seiner wunderbaren Reiseberichte wie z. B. „Land der namenlosen Berge“ über die erste Durchquerung Westnepals. (1954); seiner Romane, beispielsweise „Safari am Kamanga“ – eine Erzählung aus Ost-Afrika (1958) und später seiner Sachbücher, wie seinem spirituellen Vermächtnis „Auf der Suche nach Weisheit. Was ich von Asien gelernt habe“ (posthum erschienen 1989).  Doch dann kommt dieser wissenschaftliche Jungspund und Historiker-Kollege Mag. Hannes Stanik 2009 wie ein kulturhistorischer „diabolus ex machina“ mit seiner neuen Wiener Diplomarbeit daher. Stanik erdreistete sich, das lange verschüttete Material der NS-politischen Aktivitäten Herbert Tichys auszuwerten und zu bewerten. Mit dieser akribisch genauen wie profund detaillierten akademischen Diplomarbeit des Historikers und Geografen Stanik zu ihrer Bestürzung konfrontiert, versuchen nun die Protagonisten des oben genannten Tichy-Vereins dessen NS-Vergangenheit schönzureden und herunterzuspielen – indem sie Staniks wissenschaftliche Arbeit zu diffamieren suchen.

Denn, so schreiben sie: Auf Basis „der in vielen Teilen höchst spekulativ formulierten `Studie`“ habe Lehner die „herausragende Persönlichkeit Tichys in unqualifizierter Weise herabwürdigt“.

Die von den Vereins-Proponenten und Doktores Herwig Frisch, Hannes Pflaum und Verena Kienast in Anführungszeichen gesetzte Bezeichnung „Studie“ des „Studenten“ Stanik sucht zu suggerieren, dass diese so genannte Studie eines gerade erst diplomierten Studenterls keine qualitativ seriöse sei. Für den als seriös, unbequem und genau bekannten ORF-Journalisten Gerald Lehner dahingegen ist die Dokumentation der Diplomarbeit Staniks „konkret und klar recherchiert“. Er (Stanik, Anm. d. des Autors dieser Replik) „hat seine fast 700 Artikel aus dem japanisch-faschistisch unterjochten China für die Nazi-Presse ausgewertet“, die NSDAP-Karriere Tichys damit „klar aufgearbeitet und dokumentiert“.

Wertfreier ‚Idealismus’ des Tichy-Vereins?

Doch ach, die ‚idealistischen’ Vorreiter des Tichy-Beweihräucherungs-Vereins wehklagen, von Lehner „wäre ein wertfreier (sic!) Beitrag zu erwarten gewesen“.

Für mich ähnelt die Forderung von Frisch, Pflaum und Kienast nach Wertfreiheit in der Beurteilung Herbert Tichys nur allzu fatal der ‚bewährten’ scheinheiligen Schutzbehauptung aller gesellschaftspolitischen Wert-Ignoranten – frei nach dem altösterreichischem bürgerlichen Legitimierungs-Zwangsdogma „Politisch Lied, ein garstig Lied“, das heißt:  Sich nur ja nicht öffentlich deklarieren, da könnte einem ja schaden; vielmehr in parapolitischen Interessensverbänden (wie beispielsweise seit ihrer Gründung 1862 bzw. 1869 bis mindestens 1945 Österreichischer wie Deutscher Alpenverein und Konsorten) agitieren, wie es ja ‚altehrwürdige’ österreichische Tradition seit gut 200 Jahren (Vereinsgründungen im Biedermeier als Kompensation für parteipolitischen Tätigkeit) ist … .

Denn tatsächlich hat keine menschliche Aussage die Möglichkeit zu einer wie immer gearteten Wertfreiheit, so wie es keine sogenannten ‚unpolitischen’ Menschen gibt. Vielmehr sind Personen, die solches von sich behaupten, gesellschaftspolitisch überwiegend konservativ bis reaktionär eingestellt.

Die euphemistische ‚unpolitische’ taktische Trias so genannter ‚Idealisten’ kann man so charakterisieren:
• Zuerst Verschweigen, dann Verleugnen, (und wenn das nichts nützt) zuletzt Verleumden.
• Par exemple:
• Erst wird die Diplomarbeit Staniks von 2009 fünf Jahre lang ignoriert und damit de facto totgeschwiegen.
• Nach ihrem Bekannt werden wird ihre gesellschaftspolitische Brisanz & Relevanz verleugnet.
• Und wenn das alles nicht hilft, wird der publizistische Überbringer der un(an)genehmen Wahrheit, nämlich Gerald Lehner, öffentlich verleumdet.

Als untergriffig unterstellenden ‚Höhepunkt’ ihrer Entgegnung auf Lehners Tichy-Artikel empfiehlt das Tichy-Triumvirat dem Alpinisten und Autor Lehner im „Standard“, es solle einmal ein Buch von Tichy lesen.

Ex-Nazi Tichy als humanistischer Superman der Nachkriegszeit

Lehner hat sich jahrelang biografisch mit Tichy beschäftigt, war auch auf seinen Spuren im Himalaya unterwegs. Auch Lehner hat in seiner Alpinjugend – wie ich – die Tichybücher anbetungsvoll verschlungen. Was hingegen sollte der geneigte Tichy-Leser dessen Büchern gesellschaftspolitisch Relevantes entnehmen? Sowohl der „humanistische“ Superman Tichy wie der noch aktivere NS-Protagonist Heinrich Harrer wussten ihre NS-Wegbereiterschaft nicht nur in ihren Büchern, sondern nach 1945 auch annähernd ein halbes Jahrhundert lang vorsätzlich zu verschweigen (Tichy starb 1987, Harrer 2006). Mit ihrem beredten Schweigen hintergingen Tichy wie Harrer die alpine ebenso wie die zivile Öffentlichkeit nicht nur Österreichs, sondern vielmehr der ganzen Kulturwelt.

Frisch, Pflaum und Kienast hingegen scheinen durch den „Standard“-Artikel Lehners ihre offensichtlich ‚heiligsten Güter’, nämlich die der kritiklos unpolitischen Anbetung der obersten österreichischen Alpin- und Kulturikone, des Superman Tichy, „in unqualifizierter Weise herabgewürdigt“ – wo sie doch den Gralsdom ihrer Anbetung zu Tichys ewigem Heil errichteten . Dagegen müssen die alpinhistorischen Publikationen Lehners und des Autors dieser Replik, welcher die während der NS-Zeit triumphierend öffentlich getätigte Aussage Harrers, in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Grazer Synagoge angezündet zu haben, zu publizieren wagte., wohl jedem ‚wahren’ österreichischen Patrioten so unerträglich wie unentschuldbar erscheinen.

Wie Harrer und Tichy sich dem Grauen des Zweiten Weltkrieges als Tibet-Vagabund beziehungsweise als Asienkorrespondent für NS-Zeitungen entzogen, muss einem pazifistischen Beobachter beinahe schon Bewunderung abnötigen – auch angesichts von 350.000 bis 400.00 deutschen NS-Deserteuren, denen in Österreich erst am 24. Oktober 2014 mit der Einweihung des Denkmals für die Deserteure und andere Opfer der NS-Justiz vor der Hofburg posthum minimale Gerechtigkeit widerfuhr.

Dem gemäß trifft der vergebliche Exkulpierungsversuch von Frisch, Pflaum und Kienast – wenn auch ungewollt – den Nagel auf den Kopf: Denn Tichy „konnte dem „Tausendjährigen Reich nichts abgewinnen“; er entzog sich vielmehr dem totalitären Regime Nazi-Deutschlands, das einen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg führte, auf elegant effektive Art und Weise durch seine Absetzung in den Fernen Osten … .

Dass er sich ebendort für „FPK“ „sein kärgliches Brot als Journalist für deutsche Zeitungen, was eine Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer und der NSDAP zwingend erforderte“, verdienen musste, wird wohl nicht nur einen Tichy-Anbetungs-Verein zum Vergießen von Krokodilstränen bringen, sondern wohl auch die wenigen Überlebenden von 6 Millionen KZ-Häftlingen des Dritten Reichs, die ja ebenfalls mit maximal 800 Kilokalorien „täglich ihr kärgliches Brot“ zu verspeisen hatten.

Während dem Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg 55 Millionen Menschen weltweit zum Opfer fielen, die tatsächlich unter unvorstellbar brutalen Bedingungen lebten und starben, führte Tichy ein politisch so gut wie sorgenfreies Leben, indem er sich durch seine fernöstlichen ‚humanistischen Aktivitäten’ der Eingliederung in das NS-Kriegssystem so systematisch wie vorsätzlich entzog.

Von Schuldabwehr zur Schuldumkehr

Dem kritischen gesellschaftspolitisch versierten Leser dagegen muss die Argumentation der ‚idealistischen Drei’ des Tichy-Vereins gleichsam als Schuldabwehr samt daraus resultierender Schuldumkehr erscheinen – nach 1945 ja immer schon geübt und bewährt, in manchen Kreisen der FPÖ und deren ideologischem Dunstkreis, ebenso wie bei manchen der schlagenden Burschenschaften Österreichs und der Neonazi-Szene.

Wenn Tichy tatsächlich nicht NS-affin oder gar nazikritisch eingestellt gewesen wäre, hätte er niemals für deutsche NS-Zeitungen geschrieben – denn, um die alten, juristisch nicht ganz unbegabten Römer zu zitieren: qui tacet, consentire videtur – wer (über seine Nazivergangenheit) schweigt, scheint ihr zuzustimmen.

Auf Grund der nun bekannten Faktenlage jedoch muss Tichy nicht nur als opportunistischer Mitläufer des NS-Regimes, anhand seiner Artikel vielmehr als publizistischer Asien-Vertreter des NS-Systems bezeichnet werden.

Was die von Lehner geschilderte Freundschaft Tichys mit dem schwedischen Tibetforscher, Hitler-Anbeter und notorischen NS-Kollaborateur Sven Hedin anlangt, suggerieren „F & P & K“, Tichy habe von Hedins aktiver Verherrlichung des verbrecherischen NS-Regimes nichts gewusst: Von politischen Verbindungen keine Rede.

Welchem gelernten Österreicher (nicht schon wieder!) fiele da nicht das Generalmotto der österreichischen und deutschen Nazis nach 1945 ein: „Keiner hat’s gesehen, niemand hat’s gehört“. Damit erhielt sich die gesamtdeutsche Koalition von Wegbereitern und Beihelfern, Mittätern und Mitläufern, Zuschauern und Wegsehern nach dem Zusammenbruch aller nationalsozialistischen Hoffnungen und Verbrechen ihre NS-Identität durch die neue Durchhalteparole ‚Schweigen heißt siegen‘: „Niemand war dabei und keiner hat’s gewusst.“

Die grotesk anmutende „FPK“-Behauptung für Tichy, „eine Nähe zum Nationalsozialismus findet sich in keinem seiner Bücher“, muss wie ein nazifleckenentfernender „Persilschein“ anmuten – welcher Nazi versuchte nach 1945 nicht, seine NS-Aktivitäten mit allen Mitteln zu verschleiern. Wer hier diesbezügliche unverhohlene Camouflage betreibt, sind zumindest wohl einige Mitglieder des Tichy-Gedenk-Vereins.

Denn: „Semper aliquid haeret“ – Lasst uns den Lehner anpatzen, irgendwas wird schon hängen bleiben … ..

Wundersame Wandlung vom Weltkriegs-Publizisten zum Menschenfreund

Laut Lehner kehrte Tichy nach dem Krieg seine Vorliebe für Hitler und Japans Faschisten mit großem Erfolg unter den Teppich. Der Schriftsteller Tichy schwieg zu diesen Themen. Es passte ins neue Bild: Als Bestseller- und Jugendbuch-Autor belieferte Tichy nach 1945 die – selbst perfekt auf Gedächtnislücken spezialisierte – Nachkriegsgesellschaft im Wirtschaftswunder mit spannenden und „unpolitischen“ Reiseberichten und Alpinismus-Reportagen.

So publizierte er 1951 das Sachbuch „Alaska. Ein Paradies des Nordens“ (als Nachdruck der Ausgabe von 1939), wo er 1938 fast ein ganzes Jahr verbracht hatte. Seine journalistische Unterwürfigkeit gegenüber Rassisten-Regimen hatte da schon ausgedient. Tichy verwies beispielsweise positiv auf die Tatsache, dass es in Alaska zahlreiche Mischehen zwischen „Weißen“, „Eskimos“ (Inuit) und Indianern gebe. Tichys Buch über Alaska gefiel damals Gerald Lehner so gut, dass er darüber 2004 im Jahrbuch des Österreichischen und Deutschen Alpenvereins einen großen Beitrag veröffentlichte, der aus heutiger Sicht „desaströs“ erscheinen muss (heutige Selbstaussage Lehners). Tichy wird darin als Menschenfreund geschildert, dem jeder Rassismus fremd gewesen sei. Und der sich damit meilenweit vom Mainstream seiner Zeit unterschieden habe. Lehner bezeichnet seinen damaligen Buch-Beitrag angesichts der Recherchen von Hannes Stanik aus heutiger Sicht als „Unsinn“.

Das Schlusswort dieser Replik sei Gerald Lehners Stellungnahme zu den anschuldigenden Behauptungen von Frisch & Pflaume & Kienast überlassen:

„Die saubere wissenschaftliche und nüchterne Dokumentation von Hannes Stanik in Zweifel bzw. sprachlich in den Schmutz zu ziehen – wie Sie das in Ihrem Brief an den „Standard“ tun, erfordert schon einigen Mut zu Unklarheit und Esoterik. Wer zeithistorische Fakten nicht lesen will und sie offenbar auch nicht einordnen kann oder will, muss alles glauben. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist es zudem lesenswert, wie Sie sich Ihren Tichy weiterhin schönreden beziehungsweise schönschreiben.“

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

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